Ich kann mich noch gut erinnern: In den 1980er-Jahren empfing mein Vater seine Gäste regelmäßig am Springbrunnen beim Eisernen Tor, danach zeigte er ihnen „sein“ Graz.
Sein Spaziergang durch die City war ein gezielter Auftritt, vom Eisernen Tor durch die Herrengasse zum Hauptplatz, dazu lagen einem eine wie durch ein Aderwerk aus Gassen und Plätzen sich ausbreitende Altstadtlandschaft zu Füßen, angeführt durch die Hans-Sachs-, Stempfer- und Sporgasse sowie dem Mehl- und Franziskanerplatz. Im besten Falle sprach man hier von einem Triest, ohne Meer. Das Graz meines Vaters bestand aus diversen Lokalitäten, wie das Operncafé, das Café Kaiserfeld oder das Mur Café und im Bermudadreieck mit dem Mehlplatz als Zentrum, die Haring und die Gamlitzer Weinstube. Gesteuert wurde das Treiben nach der Uhrzeit, vom Kleinen Braunen bis zum G’staubten Achterl wurden Getränke feilgeboten, die es heute fast nicht mehr gibt. Das Bermudadreieck war über die Grenzen der Stadt bekannt und ein Wochenende pro Semester in Graz zu verbringen, gehörte in Wien zum guten Ton.
Das Bermudadreieck der 1980er-Jahre
Mitgerissen wurden die Besucher immer durch den Schmäh und die Leichtigkeit der Grazerinnen und Grazer, beeindruckt waren sie vom südlichen Flair der Stadt. Ob nun das Grazer oder Wiener Bermudadreieck das erste in Österreich war, in dem man sich nächtens verlor, wäre nun müßig zu klären – dass jedoch Grazer Künstler in den eng zusammenliegenden Lokalen randvolle Stamperln aufstellen ließen und mit Stoppuhr die Lokale im Uhrzeigersinn abliefen, dazu die Schnapsstamperln leeren mussten und schließlich im Ziel in der Haring einliefen, ist doch einzigartig. Mit dabei, unter anderem Kunstimport Martin Kippenberger, Jörg Schlick und Wolfgang Bauer. Gewonnen hat übrigens der damalige Neue Galerie-Direktor Peter Weibel. Man sieht also, Glanz und Wahn waren in der Murmetropole immer gute Nachbarn. Das zog auch immer wieder interessante Zeitgenossen an. Dazu muss gesagt werden, Graz besticht wunderbar durch seine mittelalterliche Bausubstanz. Nicht umsonst wurde der Stadtkern mit seiner einzigartigen Dächerkultur in die Liste des UNESCO Kulturerbe aufgenommen. Deshalb kommen auch einige Besucher nach Graz, um von diesem Zauber umgeben zu sein. Manche können davon nicht genug kriegen.

Die Winkeln und Ecken der Stadt
War man nun schon einmal in Graz, ging man auch ganz gerne shoppen. Der Journalist und Genussmensch Helmut Gansterer, seinerzeit Trend-Herausgeber und profil-Kolumnist, liebte es, in Graz Krawatten und Schuhe zu kaufen und wenn’s nicht täuscht, Whisky zu trinken, zumindest guten Wein. Blickfang waren die Geschäfte für die noblen Roben, wie der Knilli am Joanneumring, der Brühl vorne am Eisernen Tor und dahinter in der Schmiedgasse. Dazu kamen für das jüngere Publikum Boutiquen wie Cellini, Pilatus und Vogue. Graz war auch einmal als Schuhland, mit den Headquarters von Stiefelkönig und Humanic, dazu den Ablegern wie Senior und später noch Dominici in der Stempfergasse, mehr als ein Geheimtipp. In dieser Zeit kamen auch mit Benetton und Sisley die ersten populären Modeketten aus Italien wie Benetton oder Sisley.
Natürlich, Geschäfte kommen und gehen. Manche gehen bereits nach sehr kurzer Zeit wieder, andere bleiben zumindest eine Dekade und wenige bleiben ein Leben lang und länger und sind längst aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken, wie beispielsweise das Warenhaus Kastner & Öhler. „Der Kastner“ hatte auch Auswirkungen über die Landesgrenzen hinaus. Als der Kastner im letzten Jahrhundert als erster Shoppingtempel in Österreich eine Rolltreppe bekam, soll es Wiener*innen gegeben haben, die nach Graz „Rolltreppen fahren“ gekommen sind.
Und jetzt?
Jetzt machen wir einen Sprung in der Zeit, sonst müsste man ein Buch schreiben, und landet im Hier und Jetzt. Die Herrengasse, einst die Flaniermeile durch Graz, wirkt heute angestrengt, abgewohnt und angeschlagen. Ich ertappe mich immer wieder dabei, nach dem Besuch der wunderbaren Buchhandlung Moser, dass ich mich im Meer von aussagelosen Geschäften und Lokalen verliere. Es ist wenig bis nichts da, was mich interessiert. Das heutige Bermudadreieck besteht nicht mehr aus Lokalen, sondern spitz formuliert, aus drei Geschäften, die man je nach Interesse besuchen kann. Danach stürzt man ab, aber nicht wie seinerzeit im Bermudadreieck-Rausch, sondern in eine Welt der Mittelmäßigkeit. Natürlich, der Online-Handel stresst den stationären Handel, aber vom Eisernen Tor bis zum Kastner, zwischen nichtssagenden Einkaufsketten, Leerständen und sozial auffälligen Personen, kann man als seriöses Geschäft schwer bestehen. Mit dieser Meinung stehe ich jetzt nicht alleine, weil die im Auftrag der Stadt Graz gegebene Werbekampagne „Graz. Die schönste Shopping-Meile hat kein Dach“, zieht in den Sozialen Medien einen Rattenschwanz aus Spott und Häme mit sich. Der Gehalt der Aussagen lässt sich auf „Es war einmal und ist nicht mehr“ reduzieren. Aber es scheint fruchtbare Ansätze zu geben, Händler, die sich nicht unterkriegen lassen. Zurzeit scheinen sie noch eher EPUs zu sein, haben ein schmales aber feines Repertoire an Gütern, wissen, dass das Internet mehr bietet, außer eine persönliche Betreuung und einen coolen Laden, wo man gerne hingeht. Sunset Star oder das sFinks, beide in der Hofgasse, die verytasch in der Mandellstraße oder auch das Inandout Records in der Neutorgasse in Graz sind solche Shops.
Die Zeit bleibt nicht stehen.
Das Freizeitverhalten führt viele Jugendliche nicht mehr in die City, sie werden die Innenstadt nicht mehr beleben. Die Jungen und nicht mehr so Jungen fühlen sich auf Plätzen und Parkanlagen, ganz ohne Events, wohler als in der Innenstadt von Graz. Sie haben auch die Lokale um die Unis herum gestrichen voll. Warum wohl? Weil sie sich keinen Daiquiri um 10 Euro plus leisten wollen und vielleicht noch einen gesalzenen Eintritt. Covid brachte die Menschen auf die Plätze und sie wollen dort bleiben. Der Lendplatz ist schön gewachsen und beherbergt ein Biotop aus Gleichgesinnten, die Fortgehmeile zieht sich vom Kunsthaus bis zum letzten Betonhocker am Lendplatz runter, der Kaiser-Franz-Josef-Platz wird auf der gegenüberliegenden Murseite ebenfalls okkupiert. Durchaus auch mit genügend Freiraum, wo die Jugend ihre Getränke und Jause mitnehmen und wie Schmetterlinge von einem Platz zum nächsten flattern kann. „Wir sind arm, aber sexy“, heißt es in Berlin, das passt auch gut zu den Grazer Plätzen und ihrem Publikum. Vom goldenen Herbst wird dies direkt in den Advent mit Punsch und Glühwein getragen.
Jetzt oder nie.
Gegenüber der Park- und Platzmentalität wird es für alteingesessene Innenstadt-Lokale schwierig, die mit Personal und Auflagen zu kämpfen haben. Ihnen darf man ein Genusspublikum wünschen, das nicht jeden Euro umdreht. Geht auch, wenn man sieht, dass die Geschwister Rauch und Harald Irka am Pfarrhof im Winter in Graz ihre Zelte aufschlagen. Begleitet müsste das von hochwertigen Ausstellungen bis hin zu gehaltvollen Events, wie den der GenussHauptstadt, werden.
In unserer Talk-Umfrage kristallisierte sich eines heraus: Denkmalschutz hin oder her: Die Plätze und Fuzos müssen dringend begrünt werden. Bei 40 Grad im Schatten wird keiner die Beton-City freiwillig besuchen. In diesem Punkt sind sich wirklich viele einig. Wenn man hier von einer Erneuerung von Grund auf sprechen will, kann es nicht schaden. Dazu wird eine verkehrsarme Altstadt begrüßt, jedoch müssen die Menschen mit und ohne Individualverkehr wo ankommen, nicht nur mit Autos. Es gibt auch zu wenig Parkplätze für Räder und Motorräder. Das Credo kann nur lauten, miteinander und nicht gegeneinander, sonst bleiben schlussendlich Bevölkerung, Besucher und nicht zuletzt die Gastro und die Geschäfte als Verlierer zurück.
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Text: Martin G. Wanko
